Aus dem Märchen „Wassilissa, die Wunderschöne“
Eine der bekanntesten und populärsten Figuren der russischen Zaubermärchen ist bis heute unbestritten die Baba Jaga. Nach und nach fand sie auch Verbreitung in der Literatur, in Zeichentrickfilmen wie im Theater und blieb so selbst in den Großstädten, wo das Erbe der Volkskultur nur noch wenig spürbar ist, Teil der Kinderfolklore.
Meist wird sie als bösartige, furchterregende alte Hexe mit Buckel und Holzbein dargestellt, die in wichtige Geheimnisse eingeweiht ist, über magische Gegenstände verfügt (zum Beispiel einen wegweisenden Garnknäuel) und übermenschliche Kräfte besitzt. Der Lebenswandel der Baba Jaga bezeugt anschaulich ihr Losgelöstsein von der gewöhnlichen Menschenwelt: Sie fliegt in einem Mörser, verwischt ihre Spuren mit einem Besen und lebt am Waldrand in einer Holzhütte auf Hühnerbeinen. Sie versorgt sich, indem sie brave Burschen und kleine Kinder zu sich lockt, die sich gedankenlos im Wald verirrt haben, sie auf eine große Schippe setzt und in den Ofen schieben will, um sie dann zu essen
Sie ist eine von den negativen Figuren, vor denen man sich in Acht nehmen soll. Nicht selten hilft sie aber auch dem Helden, meistens, indem sie ihm etwas Nützliches schenkt oder einen Hinweis gibt, wie er ein Hindernis überwinden kann. Darüber hinaus schafft es der Held meistens, die Baba Jaga auszutricksen. Dabei zeigt sie sich nicht allzu weise und intelligent. Noch wichtiger ist aber, dass der Zweikampf mit ihr dem Helden dazu verhilft, eine neue Stufe der Reife zu erlangen und sich für einen Schlüsselmoment in seiner Geschichte zu rüsten. Kurz gesagt, Baba Jaga verkörpert den liminaren, irrationalen Typ unter den Märchengestalten.
Forscher charakterisieren die Baba Jaga als eine Geleiterin in die Schattenwelt. Und genau das unterscheidet sie grundlegend von der Hexe und anderen weiblichen Figuren der folkloristischen Glaubensvorstellungen. Interessanterweise wird der Held in vielen Geschichten von der Baba Jaga gebadet und an ihrem Tisch verköstigt — sie führt also verschiedene Ritualhandlungen aus, die üblicherweise dem Übergang aus der Welt der Lebenden in die der Toten dienen. Genau wie Koschtschej wittert sie herannahende „lebendige“ Figuren, was sie mit dem Ausruf zu kommentieren pflegt: „Pfui, pfui, es riecht nach Mensch!“
Die Steinschneidekünstler zeigen die Baba Jaga hier in ihrer natürlichen Umgebung — in der wilden, menschenlosen Natur. Sie lassen die Materialien ihr Spiel rund um ganz unterschiedliche Holzoberflächen entfalten. Namentlich die Verwendung von versteinertem Holz für den Mörser ist hierfür kennzeichnend. Besondere Beachtung verdienen zwei Knorrhölzer: Die alte, pilzgeschädigte Textur mit der stellenweise abgeblätterten Rinde wird sehr gut durch die gelungene Auswahl von Achat-Stücken mit kieseliger Kruste wiedergegeben. Die wundersamen natürlichen Maserungen und Hohlräume werden durch präzise ausgeführte Schnitte hervorgehoben und ergänzt.
[...] Eines Tages musste der Vater seine Familie verlassen und sich auf eine lange Reise begeben. Da sagte die Stiefmutter: „Wir wollen von nun an am Rand des Waldes wohnen.“ Dort stand ein leeres Haus, das keiner bewohnen wollte, denn der Wald war finster und unheimlich, und die Leute hatten Angst vor ihm, denn tief im Walde wohnte die Baba Jaga, die die Menschen auffraß als wären sie Hühnchen. Die Stiefmutter aber schickte Wassilissa immer wieder in den Wald in der Hoffnung, die Baba Jaga würde sie eines Tages fangen und verspeisen, aber Wassilissa kam mit der Hilfe ihrer Puppe immer wohlbehalten aus dem Wald zurück.
[...] Doch im selben Augenblick begannen die Augen der Schädel zu leuchten, dass es ringsum ganz hell wurde. Und im Wald erhob sich ein großer Lärm, die Bäume krachten, die Blätter zischten, und Baba Jaga fuhr herbei in einem Mörser. In der einen Hand schwang sie eine Keule, in der anderen einen Besen, mit dem sie ihre Spuren verwischte. Sie hielt an und schrie: „Pfui, pfui! Es riecht nach Mensch! Wer ist es?“ Wassilissa, voll Angst und Entsetzen, verbeugte sich zitternd und sagte: „Die Schwestern haben mich nach Feuer geschickt!“
„Deine Schwestern kenne ich wohl“, fauchte Baba Jaga, „und Feuer sollst du bekommen, aber zuvor musst du für mich arbeiten. Arbeitest du nicht, so fresse ich dich!“
[...] „Das ist dein Glück“, sagte Baba Jaga. „Hättest du mehr gefragt, hätte ich dich gefressen. Doch sage mir, wie du es schaffst, mit der vielen Arbeit fertig zu werden.“
„Der Segen meiner Mutter hilft mir“, antwortete Wassilissa.
Da schrie Baba Jaga: „Gesegnete Töchter sind mir ein Graus! Mach, dass du fortkommst!“ Sie zerrte Wassilissa aus dem Haus, gab ihr einen Schädel von ihrem Zaun — das Licht für die Schwestern — und jagte sie fort.