Aus dem „Lied von der Heerfahrt Igors“, oder kurz dem „Igor-Lied“
Wie in vielen anderen Kulturen, zogen auch in der alten Rus Wandersänger durch Städte und Dörfer und unterhielten das einfache Volk mit Liedern und Aufführungen. Die Guslispieler traten als eine der ersten Barden in Erscheinung: Sie trugen Volkslieder vor, erzählten Sagen (Bylinen), und begleiteten sie mit der Gusli, einem altertümlichen Musikinstrument.
Die Gusli zählt zu den urtümlichsten russischen Saiteninstrumenten: Das älteste von Archäologen entdeckte Exemplar wird auf das 11. Jh. datiert. Harfe, Kithara und Leier sind ihr in der Tonproduktion verwandte Instrumente. Aber nur die Gusli fand ausschließlich in der Rus Verwendung. Die zahlreichen Erwähnungen der Gusli in Chroniken, Legenden, Sagen und Märchen zeugen davon, wie tief sie in der damaligen Kultur verwurzelt war. Das Beherrschen eben dieses Instruments schrieb der Volksmund dem klügsten der drei berühmten russischen Recken zu: dem Bogatyr Dobrynja Nikititsch. Selbst in der synodalen Bibelübersetzung wurde die Gusli erwähnt.
Es galt allgemein die Ansicht, der Musiker müsse seine Gusli selbst anfertigen, um ein besseres Gespür für das Instrument zu bekommen. Aber es entwickelte sich auch ein spezieller Beruf — der des Guslibauers (eine heute beinahe vergessene Kunst). Jene Meister kannten nicht nur alle Feinheiten der Herstellung, sie waren auch immer bestrebt, ein ganz individuelles Instrument zu erschaffen, eine eigene Gusli für jeden Sänger.
Die Barden zogen immerfort durch das Land, und sie wurden allerorts würdig und mit Freude empfangen. Auf eben diesem Lebenswandel beruhte zugleich ihre Kunst: So sammelten sie immer neues Material für ihre Aufführungen und erfuhren die neuesten Ereignisse, die später als Motive in ihre Lieder einflossen. Damals wurden die meisten Menschen in einem Dorf geboren und starben in demselben, praktisch ohne jemals etwas jenseits der Grenzen der umliegenden Siedlungen gesehen zu haben. Vom Leben außerhalb, von den Helden und Feinden ihrer Heimat erfuhren sie nur aus den Gesängen der Barden. Den Guslispielern schenkte man bedingungsloses Vertrauen — sie lebten ja unter dem Volk und waren selbst von einfacher Herkunft.
Als den berühmtesten Barden kann man zweifellos Bojan bezeichnen. Seinen Namen machte das Glanzstück der altrussischen Literatur „Lied von der Heerfahrt Igors“ unvergessen. Obwohl der überlieferte Text kein einziges Mal dessen Musikinstrument ausdrücklich benennt, nehmen manche Forscher an, er habe auf einer Gusli gespielt. Bojan erscheint in diesem alten Heldenlied als ein großer Erzähler und Prophet: Seine dem Fürsten gewidmeten Preislieder erweisen sich als hellseherisch.
Der Ruhm Bojans hat ihn zum Prototypen der Guslispieler gemacht: Meistens wird Bojan als blinder Greis dargestellt, der die wichtigsten Ereignisse der Geschichte der Rus sowie zahlreiche Sagen und Lieder in seinem Gedächtnis bewahrt. Und natürlich zusammen mit seiner Gusli.
Wie wäre es, Brüder, wenn wir anfingen, nach den alten Überlieferungen die schwere Geschichte vom Zuge Igors zu erzählen, vom Zuge des Igor Swjatoslawitsch. Anfangen aber wollen wir das Lied nach den Bylinen unserer Zeit, nicht nach der Erfindung Bojans. Wenn der Seher Bojan einem ersinnen wollte ein Lied, breitete er sich aus und war in den Bäumen, war auf der Erde als grauer Wolf und als Adler, blaugrau, unter den Wolken. Und sooft er dessen gedachte, was man erzählt aus vergangenen Zeiten von Zwietracht, ließ er zehn Falken los auf eine Herde von Schwänen: der Schwan, den der erste Falke berührt, hob zu singen an, sang den greisen Jaroslaw, sang Mstislaw den Tapferen, der den Rededja zerhieb vor dem Kasogerheer, oder er sang Roman den Schönen Swjatoslawitsch. Doch nein, Brüder, Bojan ließ nicht zehn Falken los auf eine Schar Schwäne; er warf seine erlauchten Finger in lebendige Saiten: die rauschten zum Ruhme der Fürsten.