Dobrynja und der Lindwurm
Der Sieg über den Drachen Gorynytsch war die erste und ruhmreichste Heldentat Dobrynja Nikitytschs, des mittleren der drei berühmten russischen Bogatyri. Im Laufe der Zeit statteten die Menschen die Helden der mündlich überlieferten Legenden mit verschiedenen Charakterzügen aus, die im Volk jeweils als wichtig erachtet wurden. So ist im Zusammenhang mit Dobrynja oft von einer gewissen „Gebildetheit“ die Rede, etwas, das neben Tapferkeit auch diplomatisches Geschick, die Kenntnis der Etikette, Bildung und künstlerisches Talent einschließt. Kurz, der physischen Kraft des Bogatyr wird Intelligenz und Weisheit an die Seite gestellt.
Der Drache Gorynytsch verkörpert in dieser Erzählung das irrationale epische Böse. Er wird meist mit drei Köpfen und Feuer speiend dargestellt. Die Legende schildert zwei Kämpfe Dobrynjas gegen den Drachen: Aus beiden geht der Bogatyr als Sieger hervor, aber im ersten lässt er den Feind am Leben, was untypisch für das russische Epos ist. Darüber hinaus wird der erste Kampf durch Dobrynjas Missachtung des ungeschriebenen Gesetzes provoziert, welches das Baden im Fluss verbietet, in dem der Drache haust. Der zweite aber dient der Rettung der Nichte des Fürsten Sabawa Putjatischna und der Befreiung der Rus von einem schrecklichen Fluch.
Bemerkenswerterweise findet Dobrynja, als er den Drachen zur Rettung des Mädchens getötet hat, in der Höhle des Biestes eine ganze Schar Gefangener, einschließlich fremdländischer Königssöhne. So verwandelt Dobrynja mit der Erfüllung des fürstlichen Befehls seinen Sieg in eine Heldentat im wahrsten Sinn des Wortes: Er erlöst die Rus von der Tyrannei des Drachen.
Die effektvolle Komposition des Zweikampfs sticht sofort ins Auge: Sie baut auf dem Kontrast von Rot (Mantel und Hemd, Jaspis) und Gold (Ringpanzer und Helm, Pyrit) in der Figur des Recken einerseits sowie dem leuchtenden Grün des Drachen andererseits auf. Bei näherer Betrachtung der Drachenflügel kann man den hochfeinen Schnitt bewundern: Der obere Bereich der Jaspisstücke ist beinahe durchsichtig.
[...]
Da sprach Dobrynja Nikitinitsch:
„Ha, du verfluchter Lindwurm du!
Hab ich gebrochen das Gelübde, sprich,
Oder hast du es gebrochen, verfluchter Wurm?
Warum flogst du über die Stadt Kiew hin,
Hast geraubt Sabawa Putjatitschna?
Gib heraus ohne Streit, ohne blutigen Kampf
Mir Sabawa, Putjatas Töchterlein.“
Doch ließ er sie ihm nicht ohne blutigen Kampf,
Es begann ein Kampf, ein gewaltiger,
Und viel Blut verlor der Dobrynjuschka.
Er kämpft’ mit dem Lindwurm drei Trage lang,
Doch konnt er den Wurm nicht bewältigen.
Schließlich wollte Dobrynja von hinnen ziehn,
Doch vom Himmel herab eine Stimme sprach:
„Ach, Jung-Dobrynja, Nikitas Sohn!
Hast gekämpft mit dem Lindwurm drei Tage lang,
So kämpf mit ihm noch drei Stunden lang.“
Da kämpfte Dobrynja noch drei Stunden lang,
Und überwältigte den verfluchten Wurm.
Dem Lindwurm entströmte das Drachenblut.
[...]
Die feuchte Erde, das Mütterchen,
Nach allen vier Seiten auseinanderwich,
Schlürfte ein all das Blut, das Drachenblut,
Nun stieg Dobrynja vom braven Roß
Und ging in die Höhle, ins Lindwurmnest,
Und befreit’ aus den Höhlen des verfluchten Wurms
Die Russen aus langer Gefangenschaft.
Er befreite manchen Fürsten und Fürstensohn,
Manchen König und Königssohn.
[...]
Da fand er Sabawa Putjatitschna
In der letzten Höhle des Lindwurmnests.
Und er führte Sabawa Putjatitschna
Hinaus aus der Höhle, dem Lindwurmnest,
Führte Sabawa in die lichte Welt.