Das Märchen „Der Bauer und der Bär“
Kaum ein anderes Tier steht so sehr für Russland wie der Bär. In Russland scherzt man oft, Gäste, die ins Land reisen, würden erwarten, dass sie mitten in der Großstadt auf jeden Fall einem Bären begegnen würden (unbedingt mit einer Balalaika und einer Flasche Wodka). Zirkusbären, Pralinen „Das Bärchen im Norden“, Schischkins Bild „Kiefernwald am Morgen“ und das Logo der Olympiade 1980 in Moskau — tatsächlich ist der Bär in den vielfältigsten Erscheinungen eine beliebte Gestalt, nicht nur innerhalb der Volkskultur sondern auch im alltäglichen Leben der modernen Zeit. Die russischen Volksmärchen haben dazu einen entscheidenden Beitrag geleistet.
Die Figur des Bären tritt in den Glaubensvorstellungen, Bräuchen und in der folkloristischen Literatur als eine der ersten in Erscheinung. Es wäre keine große Übertreibung zu sagen, dieser urtümliche Archetyp habe in der slawischen Kultur von Anfang an eine Rolle gespielt. Die ersten Motive, die die Größe und Herrschaftlichkeit dieses Wesens hervorheben, sind uns aus der frühesten Zeit überliefert.
Die Vorstellungen der Menschen von der Gestalt des Bären sind im Laufe der Jahre nicht ohne Veränderung geblieben, und so erscheint die Figur bereits in etwas jüngeren Märchen facettenreicher: Während Macht und Stärke bleiben, kommen leise ironische und gar satirische Töne hinzu.
Kulturforscher bringen derartige Entwicklungen mit dem Wandel der Lebensumstände der Menschen in Verbindung. In den ältesten Märchen tritt der Bär mit einer bedingungslosen zerstörerischen Kraft auf, mit der nur auserkorene Helden fertig werden — und zwar mit Hilfe ihrer List. Nach und nach verändert sich die Figur jedoch: Bei aller äußeren Übermacht ähnelt der Bär immer mehr dem Menschen.
Meistens tritt der Bär in den Tiermärchen als Herrscher über den Wald in Erscheinung, als Schutzherr der wilden wie der zahmen Tiere. Damit verkörpert er den Archetyp des zaristischen Herrschers. Zugleich entstehen und entwickeln sich die Motive auf Grund der Konflikte zwischen dem Herrscher und den einfachen Menschen. Der Bär, in der einen oder anderen Form, kommt in beinahe einem Drittel aller Märchengeschichten vor, und es ist praktisch unmöglich, eine eindeutige Charakterisierung dieser Figur wiederzugeben. Manchmal legt der Bär eine gewisse Kurzsichtigkeit an den Tag: In dem Märchen „Der Bauer und der Bär“ wird ein ziemlich naiver Bär gleich zwei Mal ohne jede Schwierigkeit von einem einfachen Bauern überlistet. Ein anderes Mal demonstriert er wieder unermessliche Stärke, wie in dem Märchen „Teremok“, in dem der Bär aus übertriebener Geselligkeit das Holzhäuschen von drei kleinen Waldbewohnern zerstört. Auch Gutmütigkeit wird ihm oft zugeschrieben: Im Märchen „Der Bär und der Hund“ hilft er einem von seinem Herren fortgejagten Hund nach Hause zurückzufinden.
Märchen halfen den Menschen früher auf ihre Weise dabei, die Angst vor wilden Waldtieren zu schmälern. Bären, genauso wie andere große Wildtiere, stellten durchaus eine reelle Bedrohung für die Dorfbewohner dar. Mit der Zeit entwickelte das einstige Schutzbedürfnis eben diese poetische Form, welche noch heute einen festen Platz im Bewusstsein und der Kultur des Volkes einnimmt.
Die steinerne Bärenfigur fällt durch die hervorragende Wahl des Materials auf. Nicht minder beachtenswert ist die Arbeit mit dem Achatstein, aus dem der „frische“ Baumstumpf gefertigt ist. Der sorgfältige Schnitt berücksichtigt die unterschiedlichen Farbgebungen in den Schichten und macht dieses Element der Komposition zu einer Kamee: Unterhalb der schrumpeligen braunen Rinde verbirgt sich eine dünne helle Schicht, unter welcher wiederum das grünliche „Füllholz“ des zerbrochenen Baumstamms hindurchtschimmert. Den naturalistischen Effekt verstärkt das abgebrochene Stück Holz in der Tatze des Bären.
Ein Bauer fuhr in den Wald, um Rüben zu säen. Als er dort pflügte und schuftete, kam ein Bär herbei:
„He, du, ich werde dir die Knochen brechen!“
„Nein, mein Lieber, lass mich leben, wir wollen besser gemeinsam Rüben säen. Ich will mit den Wurzeln vorlieb nehmen, und du sollst die Schöpfe haben.“
„So sei es. Aber wenn du schwindelst, darfst du dich nie mehr im meinem Wald blicken lassen!“ So sprach er und verschwand im Dickicht.
Die Rüben wuchsen prächtig. Im Herbst kam der Bauer, sie zu ernten. Da kam auch schon der Bär aus dem Dickicht.
„He, Bauer, ich komme meinen Anteil holen.“
„Gut, mein Lieber, wir wollen teilen — dir die Schöpfe, mir die Wurzeln.“
Der Bauer gab ihm das ganze Kraut, die Rüben aber legte er in seinen Karren und fuhr in die Stadt, die Rüben verkaufen.
Da kam ihm der Bär entgegen:
„He, wohin des Weges?“
„In die Stadt, mein Lieber, die Wurzeln verkaufen.“
„Lass mich mal kosten, wie sie schmecken.“
Der Bauer gab ihm eine Rübe. Der Bär kostete und brüllte los:
„Hee! Du hast mich betrogen! Deine Wurzeln sind ja süß! Komm ja nie wieder in meinen Wald, um Holz zu holen, sonst breche ich dir die Knochen!“
Im nächsten Jahr aber säte der Bauer an der gleichen Stelle Korn aus. Als er zur Ernte kam, war auch schon der Bär zur Stelle:
„Jetzt kannst du mich nicht mehr für dumm verkaufen, gib mir meinen Anteil!“
Der Bauer antwortete:
„So sei es. Nimm die Wurzeln, mein Lieber, und werde mit den Schöpfen vorlieb nehmen.“
Sie ernteten alles ab. Der Bär bekam die Wurzeln, und das Korn legte der Mann in seinen Karren und fuhr nach Hause.
Der Bär aber schlug sich mit den ungenießbaren Wurzeln herum.
Er ärgerte sich sehr über den Bauern, und so herrscht seitdem Feindschaft zwischen Bär und Bauer.
Der Bär
Steinschneidewerkstatt „Swjatogor“
2012
Idee: Iwan Golubew
Meister: Iwan Golubew
Schliff: Sergei Zygankow, Alexandr Pogrebnoi
Material: Feuerstein, Achat, Opal, Messing, versilbert
Maße: 31 × 23 × 23 cm
Der Bär
Steinschneidewerkstatt „Swjatogor“ 2014
Entwurf: Iwan Golubew
Meister: Alexei Sefirow, Oleg Nikolajewski, Iwan Golubew
Schliff: Albert Klewakin
Material: Bergkristall, Rauchquarz
Maße: 32 × 20 × 20 cm