Aus dem Frühlingsmärchen „Snegurotschka“ von A. N. Ostrowski
Die Geschichte von Lehl und Kupawa ist so romantisch, dass sie zum Symbol einer besonders reinen, aufrichtigen und ehrlichen Liebe geworden ist. Einst existierte sie in Form einer Volkslegende, aber seit dem 19. Jh. kennt man sie besser aus dem Märchen des russischen Dramaturgen Alexander Ostrowski und der gleichnamigen Oper von A. N. Rimski-Korsakow „Snegurotschka“, auch bekannt als „Schneeflöckchen“.
Das Märchen dreht sich um die junge Frau Snegurotschka und ihr tragisches Schicksal: Als das Ergebnis einer Liaison von Winter und Frühling muss sie sterben, sobald ihr Herz durch die Liebe erwärmt wird. Lehl und Kupawa hingegen finden ihr Glück, nachdem sie ihre eigenen Tragödien überwunden haben: Lehl wird von Snegurotschka zurückgewiesen, die zugleich der Grund ist, warum Kupawa von ihrem Bräutigam Misgir verlassen wird.
In diesem Liebesviereck hat jeder eine besondere Bedeutung. So verkörpert Kupawa das weibliche Prinzip — das Lebendige, Erdhafte und Menschliche. Die Figur des schönen Hirten Lehl ist der slawischen Mythologie entlehnt: Zeitgenossen Ostrowskis nahmen an, dass zur Zeit der alten Rus die Gottheit der Liebe und Ehe diesen Namen getragen hatte (unter modernen Forschern findet diese These allerdings keinen Zuspruch). Im Märchen selbst verfügt er wahrlich über magische Kräfte, was die Herzen der Frauen angeht — in dem Maße, dass man ihn nicht in Häusern übernachten lässt, in denen unverheiratete Töchter leben. Die beiden Helden müssen einen weiten Weg zurücklegen, um ihre wahre Liebe zu finden: Kupawa entscheidet sich gegen eine Zweckheirat, und Lehl ist bereit, sein flatterhaftes Wesen zu bändigen und sein Herz der Geliebten zu öffnen. Und während Snegurotschka und Misgir buchstäblisch von der Leidenschaft verbrannt werden, erfahren Kupawa und Lehl die wahre, lebendige Liebe.
Die Ereignisse des „Snegurotschka“-Märchens spielen in einer vorchristlichen Zeit: Im Fantasiereich Berendejewo werden Frühling und Sommer nach heidnischen Bräuchen willkommen geheißen. Alexander Ostrowski legte bei der Gestaltung seines Werks viel Wert auf die Volkstradition, und so sind die der Folklore entnommenen Handlungsstränge und Motive äußerst sorgsam in die Erzählung eingewoben.
Die Steinschneidemeister haben versucht, Lehls Charme festzuhalten: Das Poetische in der Gestalt des Musikanten wird durch die zarte Farbpalette des verwendeten Steins betont. In der Ausgestaltung der Kleidungsstücke tritt minutiöse Detailarbeit zu Tage: die Stickereien des Hemdes, die bunte Karierung der Hose, das reiche Muster der Stiefel. Der geschnitzte maserige Malachit des Sockels und der ebenso akribisch gearbeitete märchenhafte Vogelknöterich aus Ophit vereinen innerhalb dieser Serie zwei Figuren aus ein und demselben Märchen — Lehl und Kupawa.
Kupawa:
So hab’ ich endlich dich gefunden, Liebster!
Mein Herzensfreund, mein blaugeflügelt Täubchen!
Nicht deine Augen, nicht die Wangen küss’ ich,
Zu deinen Füßen, Schönster, will ich liegen!
Lehl:
Laß nur!
Wie an den Honigseim die Fliege,
Das grüne Blatt ans Wasser, an die Blume
Die Biene, — schmiegt Kupawa sich an Lehl.
Kupawa:
Du holdes Täubchen mit den blauen Flügeln!
Warm ist mein Herz und ewig dankt es dir!
Du warst es, der vor Schmach und herbem Vorwurf
Und vor des Spottes spitzigen brennenden Nadeln
Kupawas Mädchenstolz gerettet hat!
Vor allem Volke machte heut dein Kuß
Die schnöd’ Verlaßne wieder gleich den andern!
Lehl:
Ja, glaubst du denn, ich hätte nicht gewußt,
Was für ein Herz mir dieser Kuß gewann?
Der dumme Hirte hat nicht viel Verstand,
Doch weiß sein ahnend Herz die holde Freundin zu finden —
Kupawa:
Freundin? Nein! Dein treues Hündlein!
Du winkst mir, wenn du mit mir kosen willst,
Und treibst mich fort, wenn du mich nicht mehr magst,
Mit Schlägen oder Tritten. Ohne Klage
Will ich dann gehen und nur mein tränender Blick
Soll dir verkünden, daß ich wiederkomme,
Wenn du’s verlangst.
Lehl:
Du meines Herzens Freude!
Das Waisenkind gibt seine wilde Freiheit
Für immer auf. Das sieggewohnte Haupt
Beugt sich hernieder zu zwei lieben Armen,
Die Augen schauen in zwei liebe Augen,
Und seine Heimat hat das Herz gefunden.
Kupawa:
Ob deine Liebe lange währen wird,
Weiß ich nicht, Lehl, doch meine währet ewig.
Dein bleib’ ich bis zu meiner letzten Stunde,
Mein blaugeflügelt Täubchen.
Lehl:
Laß uns gehen.
Die nächtigen Schatten bleichen schon. Sieh dort!
Der Morgenröte dünner Streif durchschneidet
Bereits des Himmels östlichen Rand. Er wächst,
Wird breiter, heller — von den Strahlenaugen
Hebt seine Lider der erwachende Tag.
Komm, es wird Zeit, Jarilo zu begrüßen.
Stolz vor dem ganzen Volke zeigt der Sonne
Die schöne Freundin Lehl der Hirt.