Besonders intensiv entwickelte sich die Steinschneidekunst in Russland im Verlauf des 18. und 19. Jahrhunderts. Die aktive Erschließung des Uralgebietes, einer der eigenwilligsten Regionen Russlands und Ursprungsort seltener Gesteine, spielte dabei eine zentrale Rolle. Das namensgebende Massiv des Uralgebirges bildet eine natürliche Grenze zwischen Europa und Asien und eröffnet hinter sich das schier grenzenlose Sibirien. Die Geschichte dieser Region ist eng verbunden mit dem Bergbau, und so entwickelte sich auf Grund der immensen Vielfalt an Mineralien und Gesteinen auf ganz natürliche Weise ein großes Interesse an der Steinschneidekunst.
Die Erschließung und Entwicklung des Uralgebietes und der dazugehörigen Städte ist untrennbar mit dem Prozess der Industrialisierung verbunden. Das 18. Jh. brachte eine rasante territoriale Erschließung des Ostens mit sich: Es wurden Fabriken und Siedlungen für ihre Arbeiter gebaut, Einlagerungen wertvoller Rohstoffe freigelegt und im Zuge dessen immer wieder neue Gesteinsarten entdeckt.
Im Jahre 1726 gab es hier bereits erste Steinschneider, die sich ihr Handwerk selbst beigebracht hatten und zu deren Unterstützung man nun europäische Spezialisten in die Region holte. Die Bewohner des Ural erlernten schnell die Grundladen dieser Kunst und perfektionierten nach und nach ihre Fertigkeiten. Einen echten Wendepunkt bildete das Jahr 1751, als die Meister einzelner Werkstätten in der Feinsteinschleiferei in Jekaterinburg zusammenkamen. Innerhalb weniger Jahrzehnte eigneten sie sich zahlreiche Richtungen und Formen der Steinbearbeitung an. Nach und nach begannen die Meister ihre Stücke mit funktional gesehen unnötigen, dekorativen Elementen auszustatten, und im Verlauf des 19. Jhs. entwickelte sich die Kunst des Steinschneidens konsequent weiter: Motive wurden entwickelt, es wurde an Techniken gefeilt und das Spektrum der verwendeten Steinarten erweitert. Weintrauben aus Amethyst, Johannisbeeren aus Obsidian, Walderdbeeren aus Schlacken — die Künstler lernten das Material gewissermaßen zu beleben, indem sie die Besonderheiten in der Textur jedes einzelnen Gesteins herausstellten.
Der Ural brachte nicht nur eine Generation hochkarätiger Meister hervor, die mit Aufträgen aus den Hauptstädten betraut wurden: Gegen Ende des 19. Jhs. zählte Jekaterinburg mehr als einhundert solcher Handwerksmeister.
Die meisten kennen Peter Carl Fabergé (1846–1920). Obwohl er vor allem durch die Juwelierkunstwerke des von ihm geführten Unternehmens berühmt geworden ist, war es eben er, unter dessen fachkundiger Anleitung 1908 die ersten zusammengesetzten Steinfiguren in Russland entstanden. Das Unternehmen Fabergé kooperierte mit der Jekaterinburger Feinsteinschleiferei: Im Ural wurden Edelsteine eingekauft, Muster bestellt und Meister für die Arbeit an Großaufträgen eingeladen. Es ist bezeichnend, dass die ersten Figuren der Steinserie „Russische Typen“, gefertigt nach den Entwürfen eines eigens hierfür eingeladenen Künstlers, aus den Händen der Meister aus der Uralstadt Jekaterinburg stammten. Erst mit der Ankunft der Handwerkskünstler dem Ural entstanden überdies die ersten Steinschneideateliers innerhalb der Firmenstruktur Fabergés.
Viele Legenden ranken sich um die Steinkunst des Ural. Eine davon handelt beispielsweise von dem Bergmeister Danil Swerew (1858–1938), dessen Intuition und meisterhafte Beherrschung des Handwerks unter seinen Zeitgenossen für bewundernde Anerkennung sorgten: Es hieß, er würde schon von weitem die Fundorte der wertvollsten Schmucksteine in den Bergen spüren. Sein Arbeitsvermögen und sein fester Charakter brachten ihm ansehnliche Früchte ein: Durch harte Arbeit und die tiefe Durchdringung der Geheimnisse des Bergwesens konnte er sich einen Namen als Schätzer von Edelsteinen machen und fungierte als Berater berühmter Wissenschaftler mit Aufträgen aus Moskau und St. Petersburg.
Von größtem Interesse ist jedoch unbestritten das Werk von Alexei Kosmitsch Denisow-Uralsk (1864–1926) — eines Steinschneiders mit Familientradition. Die Liebe zum Gestein und die Fähigkeit damit umzugehen erbte er von seinem Vater, einem Bergarbeiter. Denisow-Uralsk war noch keine dreißig, als ihm seine steinernen Arbeiten die ersten Auszeichnungen und Preise in Russland sowie im Ausland einbrachten — so bei Ausstellungen in Moskau, Kopenhagen und Paris. Er war es auch, der als erster die Probleme der Förderung von Gesteinsvorkommen im Ural öffentlich machte, indem er das Potential der Region bei verschiedenen großen Veranstaltungen vorbrachte. Dieser Künstler und Meister seines Handwerks spielte eine entscheidende Rolle nicht nur bei der Entwicklung, sondern auch bei der Popularisierung der Kunst des Steinschneidens.
Zu allen Zeiten haben die Ausstrahlungskraft und die Beständigkeit von Kunstwerken aus Stein die Nachfrage nach ihnen sichergestellt. So auch unter dem Sowjetregime: Den Meistern der staatlichen Vereinigung „Russische Edelsteine“ wurde ein verantwortungsvolles Projekt aufgetragen — das 5910 × 4500 mm große Mosaikpanneau „Die Industrie des Sozialismus“. Es waren vor allem Steinschneidemeister aus dem Ural, die die Tafeln für die Mosaiklegung zuschnitten und Steine schleiften. Es gibt in unserer Zeit wohl nicht viele Werke aus Stein, die solche Maßstäbe vorweisen können.
Ein weiterer Impuls zur Entwicklung der Steinschneidekunst im Ural ging von der Gründung der Kunstgewerbeschule in Swerdlowsk aus, die seit Kurzem den Namen „Rifej“ trägt. In den ersten Jahren ihres Bestehens erschufen ihre Studenten unter der Leitung des Meisters Nikolai Dmitrijewitsch Tataurow (1887–1959) die Komposition „Der Ural schmiedet den Sieg“, welche in einem einzigen Werk die Techniken des flachen, des dreidimensionalen und des Relief-Mosaik vereint. In diesem Kunstwerk sind die Arbeiter des Ural in ihrem Element verewigt, womit das Motiv ganz natürlich das Thema der traditionellen Weitergabe des Handwerks und der Förderung der Reichtümer im Ural aufgreift.
So wurde die Richtung des dreidimensionalen Mosaik in das Lehrprogramm der Berufsschule aufgenommen. Dennoch erhielt die dekorative Skulptur nicht die wünschenswerte Aufmerksamkeit — nicht zuletzt auf Grund des Schwierigkeitsgrades dieser Technik: Es ist alles andere als einfach, die feinen Nuancen von Mimik und Kleidungsstücken im Stein wiederzugeben. Dies erfordert eine sehr gute technische Ausstattung, professionelle Handhabung und Beherrschung von künstlerischen Fertigkeiten wie Komposition und Anatomie.
Zu Beginn des 21. Jhs. erhielten die Meister Zugang zum freien Markt der Mineralien und arbeiten seitdem aktiv an der Entwicklung innovativer Technologien der Steinbearbeitung, in dem Bestreben, das Beste aus der Tradition dieses ehrbaren Handwerks zu erhalten. Man kann behaupten, dass sich im Ural eine eigenständige Strömung herausgebildet hat: Die Arbeiten zeichnen sich durch immer geringere konventionelle Schranken und Stilisierungen aus. Den Meistern reicht es nicht mehr, eine Szene mit mehreren Figuren in Steinform darzustellen, sie versuchen darüber hinaus, die Persönlichkeit einer jeden von ihnen durch Mimik und Pose herauszuarbeiten, ihre Emotionen zu transportieren.
Diese Feinstarbeit besteht aus vielen Etappen: der Erstellung eines Modells, der Auswahl der Gesteine, Bearbeitung und Entfaltung der Eigenschaften jedes einzelnen Steins, der Zusammensetzung des Mosaiks und weiteren. Die Künstler steigern stetig den Schwierigkeitsgrad der Form und des Inhalts: Dynamische Kompositionen treten an die Stelle von statischen, die Ausmaße der Kunstwerke nehmen zu. Dabei finden Elemente aus Ziersteinen und Emaille immer weniger Verwendung — diese „Reinheit des Steins“ ist ebenfalls zu einem Unterscheidungsmerkmal der im Ural entwickelten Richtung geworden.
Stein ist ein würdevolles und selbstgenügsames Material, das eine ganz eigene, schwer zu beschreibende Anziehungskraft besitzt. Ohne die Fähigkeit, ihn zu spüren und dem Betrachter spürbar zu machen, ist die künstlerische Arbeit mit dem Stein unmöglich. Mit der Erfahrung kommt eine besondere Intuition und Virtuosität: Das Mineral führt gleichsam selbst die Hand des Meisters und weist ihm dabei den Weg durch seine naturgegebene Heterogenität, durch Einlagerungen und Unebenheiten.
Darin liegt der besondere Reiz der Kunstwerke aus massivem Stein: Der unbehandelte Brocken erinnert oft nur durch eine kaum greifbare Andeutung an seine zukünftige Form, und diese ist wiederum nur einem fachkundigen Blick zugänglich. Der Steinschneidemeister „öffnet“ das Wesen des Monoliths, indem er zunächst die Konturen und dann auch die kleineren Details freilegt, und erschafft so eine für das Auge des Betrachters sichtbare, authentische Figur.
Eines der charakteristischen Beispiele hierfür ist die Skulptur des Pan , die aus großen, bearbeiteten Achatstücken zusammengesetzt ist. Die penible, sorgfältige Arbeit des Künstlers offenbart das verborgene Potential, indem es die naturgegebene Heterogenität des Materials in einen künstlerisch-ästhetischen Vorzug verwandelt. Mehr noch: Als der Künstler die Figur des Bocks herausarbeitete — ebenfalls aus massivem Stein —, trat genau an der Stelle, die für die Schnauze des Tieres vorgesehen war, eine winzige weiße Linse zu Tage — die Einlagerung eines Fremdmaterials befand sich genau dort, wo der Meister die Zähne haben wollte, und das steinerne Tier begann wie von selbst „zu lächeln“. Von Dutzenden solcher Zufälle können die Meister berichten. Aber auch davon, wie sich manchmal mitten im Arbeitsprozess das Konzept plötzlich verändert, weil sich im Laufe der Gestaltung auf einmal eine etwas andere Figur offenbart, als der Künstler sie sich vorgestellt hatte. Nur ein achtsamer Meister ist fähig, solch eine Veränderung wahrzunehmen und umzusetzen.
Der Großteil der präsentierten Arbeiten ist in der Technik des dreidimensionalen Mosaik ausgeführt. So bezeichnet man Figuren, die aus mehreren bearbeiteten Einzelsteinen verschiedener Gesteinsarten zusammengesetzt sind.Die Vielfalt der Farben und Texturen eröffnet großartige Möglichkeiten des künstlerischen Ausdrucks. Die detailreiche, feine Herausarbeitung der Einzelelemente erlaubt es, sich von den gängigen Konventionen innerhalb der gestalterischen Steinverarbeitung zu lösen und sich naturalistischeren Darstellungen zuzuwenden.
Die Steinschneidemeister des Ural geben eben dieser komplexen Technik den Vorzug und erweitern mit Vorliebe ihre Grenzen. So sind es vor allem ihre Arbeiten, die Kompositionen aus mehreren Figuren sowie Genreszenen zeigen. Besonders beliebt sind bei den Künstlern des Ural Motive aus Märchen und Mythen: Die Zeitlosigkeit und die archetypische Aussagekraft dieser urtümlichen Sujets macht das feste Material des Steins zu ihrem natürlichen Element.
In der Arbeit mit dem dreidimensionalen Mosaik bemühen sich die Künstler, das Potential eines Steins in jedem Detail „freizulegen“. Wenn man die Skulptur des Koschtschej betrachtet, kommt man nicht umhin zu bemerken, wie echt das Gesicht der Figur wirkt. Rote Äderchen und feine Risse in der Textur des Steins sind wie geschaffen dafür, die trockene, greise Haut des ausgemergelten Koschtschej wiederzugeben. Die Besonderheiten des sorgfältig gewählten Materials werden zum Ausdrucksmittel des Künstlers.
Das Aufspüren und Zusammenführen solcher Einzelelemente zu einem Gesamtkunstwerk ist eine schwierige und mühsame Arbeit. Deshalb ist es unmöglich, derartige große Kompositionen zu kopieren. Und das liegt weniger an der Komplexität der Ausführung als an den einzigartigen Eigenschaften des natürlichen Gesteins. Das Ergebnis ist nicht bloß ein verarbeitetes Mineral und nicht einfach ein Entwurf, der verwirklicht wurde. Der Betrachter sieht sich einer komplexen Schöpfung gegenüber, deren verschiedene Einzelelemente von einer inhärenten Anziehungskraft durchzogen sind und auf diese Weise in ihrer Verbindung ein organisches Gesamtkunstwerk ergeben.
Die Exposition ist im Liechtensteinischen Landesmuseum präsentiert
Den Preis „Schönste Bücher aus Liechtenstein 2015“ hat das Buch „Sagen und Märchen in Meisterwerken Uraler Steinkünstler“ gewonnen
Einen Einblick in die Exposition kann man im Liechtensteinischen Landesmuseum bis zum 18. Oktober 2015 bekommen.
In der heutigen Zeit blühen die neuen Medien. Computerspiele scheinen schon bei Kindern immer mehr die althergebrachte Vorlesekultur und das eigene Lesen zu ersetzen. Daher mag es vielleicht zunächst verwundern, dass ausgerechnet jetzt eine Ausstellung über Märchen in Steinskulpturen präsentiert wird. Es stellen sich vielleicht die Fragen: Brauchen wir eigentlich noch Märchen, und brauchen wir das kunstvolle Handwerk der Steinschneider?
Besonders intensiv entwickelte sich die Steinschneidekunst in Russland im Verlauf des 18. und 19. Jahrhunderts. Die aktive Erschließung des Uralgebietes, einer der eigenwilligsten Regionen Russlands und Ursprungsort seltener Gesteine, spielte dabei eine zentrale Rolle. Das namensgebende Massiv des Uralgebirges bildet eine natürliche Grenze zwischen Europa und Asien und eröffnet hinter sich das schier grenzenlose Sibirien. Die Geschichte dieser Region ist eng verbunden mit dem Bergbau, und so entwickelte sich auf Grund der immensen Vielfalt an Mineralien und Gesteinen auf ganz natürliche Weise ein großes Interesse an der Steinschneidekunst.
Im Abschnitt „Ausstellung“ sind alle Werke der Steinschneidekunst aus der Exposition „Sagen und Märchen in Meisterwerken Uraler Steinkünstler“ dargestellt.
Pratteln (BL) - Erstmals werden aus Stein gefertigte Meisterwerke aus dem Ural in der Schweiz ausgestellt. Die Skulpturen stellen Menschen, Tiere, Sagen- und Mythenfiguren mit lebensechtem Ausdruck dar. Basismaterial sind seltenen Gesteinsarten und Mineralien. Die Galerie Hermann Alexander Beyeler in Pratteln (BL) zeigt die Werke vom 3. Dezember 2015 bis 1. April 2016.
Am 8. Juli findet im Liechtensteinischen Landesmuseum in Vaduz feierliche Eröffnung der Ausstellung „Sagen und Märchen in Meisterwerken Uraler Steinkünstler“ statt.
Die Ursprünge der Uraler Steinschneidekunst gehen zurück auf die Epoche der Reformen von Peter I. dem Großen. Die Geschichte dieses Kunsthandwerks war in den dreihundert Jahren seines Bestehens eng verflochten mit westeuropäischen Traditionen der Edelsteinbearbeitung.
Das Steinschneidehandwerk ist eine bemerkenswerte Kunst: Auf der einen Seite ist der Steinschneidemeister ein Künstler im Sinne eines Schöpfers, der einem zunächst harten und formlosen Gegenstand Leben und neue Form verleiht. Andererseits besteht die zentrale Aufgabe des Meisters darin, dasjenige freizulegen und zu präsentieren, was bereits die Natur selbst geschaffen hat: Schönheit, Struktur, die Einzigartigkeit und den Charakter der Mineralien. Jedes Werk der Steinschneidekunst bedeutet einen Balanceakt auf eben jenem schmalen Grat zwischen der Rolle des Schöpfers und der des Vermittlers.
Das Buch wurde extra anlässlich der Ausstellung, die am 23. März im Liechtensteinischen Landesmuseum eröffnet worden ist, vorbereitet: Der Leser kann alle Steinskulpturen der Exposition im Katalog finden.
Der Internet-Videokanal Roomple hat die Werkstatt „Swjatogor“ besucht und einen Film darüber, wie die Steinkünstler die Werke aus Stein schaffen, gemacht.
Die Ausgabe in vier Sprachen kann man im Liechtensteinischen Landesmuseum in Vaduz kaufen.
Die Ausstellung „Sagen und Märchen in Meisterwerken Uraler Steinkünstler“ präsentiert ausgewählte Skulpturen zum Thema Märchen, mythologische Figuren und epische Helden. Die Folklore ist seit Alters her bis zum heutigen Tage ein wichtiger Teil der russischen Kultur. Schriftsteller und Künstler schöpfen aus den Volksüberlieferungen ihre Motive, und die russische Sprache ist reich an Bezügen zu den Figuren und Erzählungen, die jeder aus der Kindheit kennt.