Das Steinschneidehandwerk ist eine bemerkenswerte Kunst: Auf der einen Seite ist der Steinschneidemeister ein Künstler im Sinne eines Schöpfers, der einem zunächst harten und formlosen Gegenstand Leben und neue Form verleiht. Andererseits besteht die zentrale Aufgabe des Meisters darin, dasjenige freizulegen und zu präsentieren, was bereits die Natur selbst geschaffen hat: Schönheit, Struktur, die Einzigartigkeit und den Charakter der Mineralien. Jedes Werk der Steinschneidekunst bedeutet einen Balanceakt auf eben jenem schmalen Grat zwischen der Rolle des Schöpfers und der des Vermittlers.
Die Arbeit an jeder neuen Skulptur beginnt mit dem Entwurf. Der Künstler bringt eine Skizze zu Papier, durchdenkt jedes Detail der Komposition, erarbeitet ein Bild. In dieser Phase begibt sich der Meister auf seine schöpferische Suche: Wie wird seine Figur sein und aussehen? Was wird die Szene erzählen? Hier sind kulturgeschichtliche Recherchen notwendig: Das Märchen, der Mythos oder die Sage sowie die dahinter stehenden Glaubensvorstellungen und Intentionen der Menschen müssen genau studiert werden. Der achtsame Umgang mit den Details beginnt bereits in dieser Phase: Die Figuren wollen von den ihnen entsprechenden Attributen umgeben und mit authentischen Gefühlen beseelt werden. Diese Arbeit duldet weder Eile noch Ungenauigkeit: Märchenfiguren sind jedem Betrachter von klein auf bekannt und derart vertraut, dass jede Verfehlung sofort auffallen würde.
Die gezeichnete Skizze bekommt ihre erste plastische Gestalt in Form eines weichen Materials — meist Plastilin. Dieser Zwischenschritt ist nötig, um die Figur in ihren Dimensionen zu sehen und den Entwurf hier und da unter Berücksichtigung der Anatomie und anderer Nuancen zu verbessern. Danach ist der Prototyp fertig für den Guss aus Acrylgips — einem innovativen polymeren Material, das den einstigen Gips ersetzt. Auf eine Art kann man dieses Modell als eigenständiges Kunstwerk betrachten: Es ist immer wieder interessant, das fertige Steinbildnis mit der polymeren Skulptur zu vergleichen. Die Unterschiede, die sich aus der Verschiedenheit der Materialien ergeben, sind oft ganz erstaunlich.
Der nächste Schritt ist die Auswahl der Steine für die zukünftige Skulptur. Die meisten Werkstätten verfügen über eine ständig erweiterte Steinkollektion, die die künstlerische Ausrichtung, die Bedürfnisse und Vorlieben der Meister berücksichtigt. Farbe, Textur, Festigkeit und gestalterische Eigenschaften — das alles spielt eine Rolle bei der Wahl des passenden Minerals für die verschiedenen Elemente der Figur. Einzelne Details können aus Edelsteinen oder Halbedelsteinen sowie aus Metallen gefertigt sein. Und wenn auch die Idee im Laufe des Entstehungsprozesses zum Teil eine andere Form annehmen wird, ist es enorm wichtig, die Zusammenstellung der einzelnen Materialien im Sinn zu behalten, so dass sie eine schlüssige Gesamtkomposition ergeben.
Ihre erste Form bekommen die Steinrohlinge mit Hilfe einer groben Säge. In dieser Phase ist es wichtig, die Struktur des Gesteins aufzuspüren, während man einen ersten Entwurf auf das Originalmaterial bringt. Erst dann beginnt die Ausarbeitung der Details entsprechend dem Modell mit feineren Sägen. Das Hauptinstrument sind hierbei diamantene Trennscheiben. Auf die Werkbank wird in einem dünnen Strahl Wasser geleitet — das hilft dabei, das Ergebnis einer jeden Bewegung in Reinform sichtbar zu machen. Die Arbeit am Stein wird mit kleinen flachen Schnitten ausgeführt — so kann der Meister aktiv auf die feinsten Nuancen in der Struktur des Gesteins eingehen. Gleichzeitig erfordert dieser Prozess volle Versenkung und Konzentration, denn der Stein verzeiht nicht die kleinste Ablenkung.
Am Ende dieses Vorgangs hat der Steinschneidemeister die Basis für alle notwendigen Details geschaffen — Kleidungsstücke mit ihren feinen Schichten und Falten, Gesichtszüge, Muskulatur. Jedes Element ist bereits möglichst nah am Modell. Und hier beginnt die aufwändigste Arbeitsphase, die ein Höchstmaß an Geduld und Aufmerksamkeit einfordert. Mit Hilfe einer Bohrmaschine geben die Meister jedem Detail ihre endgültige Form. Dazu wird das Instrument mit Diamantaufsätzen verschiedener Größen versehen — vom Drehbohrer bis zur Nadel, so dass jedes noch so kleine und aufwändige Element herausgearbeitet werden kann. Während der Meister sein Konzept auf die steinerne Figur oder das Einzelelement überträgt, hat er das Acrylgipsmodell vor sich, um seine Arbeit immer wieder damit abzugleichen. Wenn man bedenkt, dass es wochenlange Feinarbeit an jedem einzelnen Strich erfordert, das Bildnis und die Textur so authentisch wie nur möglich darzustellen, ist es höchst interessant, die kleinen Fältchen auf der Haut oder der Kleidung, die Haare oder das Fell der Tiere genau zu betrachten.
Der vorletzte Schritt ist verantwortlich für die Gesamwirkung der Skulptur. Spezielle Polierpasten und die Werkbank helfen dem Meister, jedem Detail buchstäblich den letzten Schliff zu geben. Hier wird der wahre Farbglanz und die Maserung des Steins hervorgeholt. Manchmal wirkt der Stein, als sei er etwas feucht — dieser Eindruck ist das Resultat des Feinschliffs, der das Spiel der Lichtstrahlen auf dem Gestein im Sinne des Meisters hervorbringt.
Als finaler Schritt folgt dann die Zusammensetzung der fertigen Elemente zu dem dreidimensionalen Mosaik. Feinste, unsichtbare Stoßlinien, sorgfältige Verleimung und das genaue Aufsetzen auf die Drahtstifte — auch dieser Prozess birgt eine Vielzahl an Geheimnissen, von deren Kenntnis das Endergebnis des gesamten langwierigen und komplizierten Entstehungsprozesses nicht unwesentlich abhängt.
In jeder Phase sind Abweichungen von dem Originalmodell möglich. In erster Linie liegt dies an der Besonderheit des Materials: Der Stein kann die Führung übernehmen und den Weg weisen oder sich im Gegenteil der Intention des Künstlers versperren. Ein erfahrener Steinschneidemeister lässt aus diesem Grund immer Variationsmöglichkeiten zu, was ihm den Raum gibt, kreativ zu arbeiten und spontan zu improvisieren.
An einer Skulptur arbeiten in der Regel mehrere Meister gleichzeitig, wobei der gesamte Entstehungsprozess bis zu zehn Monate beanspruchen kann, vor allem wenn das Kunstwerk aus mehreren Figuren und einer großen Zahl von aufwändigen Einzelelementen besteht. Es ist mitunter auch eine monotone Tätigkeit, die mit mehrtägiger Ausarbeitung eines einzelnen Details verbunden sein kann. Deshalb erfordert der gesamte, aus vielen Einzelschritten bestehende Vorgang eine sorgfältige Organisation der künstlerischen Zusammenarbeit.
Das Format der Werkstätten hat sich als das effektivste durchgesetzt. Das Künstlerkollektiv hat viele Vorteile gegenüber dem Alleinschaffenden. Dank der handwerklichen Spezialisierung der Meister ist das Kollektiv in der Lage, weitaus größere und ambitioniertere Skulpturen zu verwirklichen und dabei seine Fertigkeiten immer weiter zu perfektionieren. Darüber hinaus kann eine Meisterwerkstatt solch einen Auftrag in viel kürzerer Zeit fertig stellen und damit eine breitere Palette an Aufträgen bearbeiten. Auch der Alltag der Künstler ist abwechslungsreicher. Man muss sich nur einmal vorstellen, was es heißt, einen Wolfspelz haargenau herauszuarbeiten, damit man weiß, warum eine regelmäßige Abwechslung der Tätigkeit im Steinschneidehandwerk so wichtig ist. Nicht zuletzt weil sich die Steinschneidemeister des Ural in Kollektiven organisierten, konnten sie dieses hohe ästhetische wie technische Niveau erreichen.
Die Exposition ist im Liechtensteinischen Landesmuseum präsentiert
Den Preis „Schönste Bücher aus Liechtenstein 2015“ hat das Buch „Sagen und Märchen in Meisterwerken Uraler Steinkünstler“ gewonnen
Einen Einblick in die Exposition kann man im Liechtensteinischen Landesmuseum bis zum 18. Oktober 2015 bekommen.
In der heutigen Zeit blühen die neuen Medien. Computerspiele scheinen schon bei Kindern immer mehr die althergebrachte Vorlesekultur und das eigene Lesen zu ersetzen. Daher mag es vielleicht zunächst verwundern, dass ausgerechnet jetzt eine Ausstellung über Märchen in Steinskulpturen präsentiert wird. Es stellen sich vielleicht die Fragen: Brauchen wir eigentlich noch Märchen, und brauchen wir das kunstvolle Handwerk der Steinschneider?
Besonders intensiv entwickelte sich die Steinschneidekunst in Russland im Verlauf des 18. und 19. Jahrhunderts. Die aktive Erschließung des Uralgebietes, einer der eigenwilligsten Regionen Russlands und Ursprungsort seltener Gesteine, spielte dabei eine zentrale Rolle. Das namensgebende Massiv des Uralgebirges bildet eine natürliche Grenze zwischen Europa und Asien und eröffnet hinter sich das schier grenzenlose Sibirien. Die Geschichte dieser Region ist eng verbunden mit dem Bergbau, und so entwickelte sich auf Grund der immensen Vielfalt an Mineralien und Gesteinen auf ganz natürliche Weise ein großes Interesse an der Steinschneidekunst.
Im Abschnitt „Ausstellung“ sind alle Werke der Steinschneidekunst aus der Exposition „Sagen und Märchen in Meisterwerken Uraler Steinkünstler“ dargestellt.
Pratteln (BL) - Erstmals werden aus Stein gefertigte Meisterwerke aus dem Ural in der Schweiz ausgestellt. Die Skulpturen stellen Menschen, Tiere, Sagen- und Mythenfiguren mit lebensechtem Ausdruck dar. Basismaterial sind seltenen Gesteinsarten und Mineralien. Die Galerie Hermann Alexander Beyeler in Pratteln (BL) zeigt die Werke vom 3. Dezember 2015 bis 1. April 2016.
Am 8. Juli findet im Liechtensteinischen Landesmuseum in Vaduz feierliche Eröffnung der Ausstellung „Sagen und Märchen in Meisterwerken Uraler Steinkünstler“ statt.
Die Ursprünge der Uraler Steinschneidekunst gehen zurück auf die Epoche der Reformen von Peter I. dem Großen. Die Geschichte dieses Kunsthandwerks war in den dreihundert Jahren seines Bestehens eng verflochten mit westeuropäischen Traditionen der Edelsteinbearbeitung.
Das Steinschneidehandwerk ist eine bemerkenswerte Kunst: Auf der einen Seite ist der Steinschneidemeister ein Künstler im Sinne eines Schöpfers, der einem zunächst harten und formlosen Gegenstand Leben und neue Form verleiht. Andererseits besteht die zentrale Aufgabe des Meisters darin, dasjenige freizulegen und zu präsentieren, was bereits die Natur selbst geschaffen hat: Schönheit, Struktur, die Einzigartigkeit und den Charakter der Mineralien. Jedes Werk der Steinschneidekunst bedeutet einen Balanceakt auf eben jenem schmalen Grat zwischen der Rolle des Schöpfers und der des Vermittlers.
Das Buch wurde extra anlässlich der Ausstellung, die am 23. März im Liechtensteinischen Landesmuseum eröffnet worden ist, vorbereitet: Der Leser kann alle Steinskulpturen der Exposition im Katalog finden.
Der Internet-Videokanal Roomple hat die Werkstatt „Swjatogor“ besucht und einen Film darüber, wie die Steinkünstler die Werke aus Stein schaffen, gemacht.
Die Ausgabe in vier Sprachen kann man im Liechtensteinischen Landesmuseum in Vaduz kaufen.
Die Ausstellung „Sagen und Märchen in Meisterwerken Uraler Steinkünstler“ präsentiert ausgewählte Skulpturen zum Thema Märchen, mythologische Figuren und epische Helden. Die Folklore ist seit Alters her bis zum heutigen Tage ein wichtiger Teil der russischen Kultur. Schriftsteller und Künstler schöpfen aus den Volksüberlieferungen ihre Motive, und die russische Sprache ist reich an Bezügen zu den Figuren und Erzählungen, die jeder aus der Kindheit kennt.